Verhaltensweisen und Anreize

Teil VIII der Bitgenstein-Serie

Aus dem Original “Behavior And Incentives” von Allen Farrington, erschienen am 20. Februar 2022 in der Serie “The Bitgenstein Serialization”. Übersetzt von Fatjoe, Lektorat durch Juniormind.


‚“Es wird schwieriger, den enormen Anstieg der Verschuldung und der Gemeinkosten zu ignorieren, der mit der Ausweitung der landwirtschaftlichen Technologie einherging. Herr Billard zitiert einen Bankier aus Iowa: „1920 … waren 5.000 Dollar ein großes Darlehen, und die Leute zögerten, einen Kredit aufzunehmen. Heute ist ein 40.000-Dollar-Kredit alltäglich, und eine Hypothek nach der anderen ist eine akzeptierte Vorgehensweise. Gelegentlich frage ich mich, ob der durchschnittliche Landwirt jemals schuldenfrei sein wird.“ …… Die Aussage des Bankiers aus Iowa, so zweifelhaft sie aus dem Zusammenhang gerissen auch erscheinen mag, ist ein Loblied an den Kredit. Nirgends wird die Frage gestellt, ob es ratsam ist, ein so großes Unternehmen auf Krediten zu gründen, oder welchen Einfluss die alltägliche Verschuldung auf den Charakter eines Volkes hat. Nirgendwo wird der Verdacht geäußert, dass die alten bäuerlichen Werte der Zahlungsfähigkeit und Sparsamkeit irgendeinen Wert haben könnten.“

Wendell Berry

Worauf es bei all dem wirklich ankommt – was die Finanzterminologie verdeutlichen sollte, aber ebenso leicht verbergen kann – ist, was mit den Anreizen für den Einzelnen geschieht, seine Zeit und Energie in wirtschaftlich nützliches Verhalten zu investieren. Haben sie einen Anreiz, den Kapitalbestand zu erhöhen oder nicht? Mir fallen vier offensichtliche Veränderungen der Anreize ein, obwohl ich mir sicher bin, dass es noch unzählige weitere gibt.

Erstens wird es ein Anreiz sein, einen anderen Vermögenswert als Geld zu finden, um damit zu sparen. Wahrscheinliche Kandidaten sind Immobilien sowie Aktien- und Anleiheindizes. Die Inflation in diesen Anlageklassen wird mit der drohenden Inflation im Allgemeinen nach oben marschieren und die Preisinformationen verzerren, die sie sonst sowohl bilden als auch auf die sie sich beziehen, und das Kapital weiter zu Dingen umleiten, die nur so nachhaltig sind wie das Inflationsregime. Jeder, der diese Vermögenswerte für ihre eigentliche wirtschaftliche Funktion nutzen möchte – einen Ort zum Leben, stabile Cashflows oder was auch immer -ist diesem Regime ausgeliefert: Er kann nichts besitzen, es sei denn, er hebelt (to leverage) ebenfalls, was das Problem natürlich nur noch verschärft.

Zweitens sind diejenigen, die renditegenerierende Kapitalanlagen halten, aber nicht hebeln, vergleichsweise benachteiligt, wenn ihre Wettbewerber dies tun. Und wenn sie keinen politisch bevorzugten Zugang zu den vorderen Plätzen in der Warteschlange für neue Kredite erhalten, müssen sie möglicherweise an diejenigen verkaufen, die einen haben. Das älteste Unternehmen der Welt, Kongō Gumi, wurde über 50 Generationen von derselben japanischen Familie geführt, bevor es 2006 an den Mischkonzern Takamatsu verkauft wurde, als es laut Bloomberg „der Überschuldung erlag“.

Drittens wird dieser ständige und sinnlose Wunsch nach Finanzialisierung politische und geschäftliche Möglichkeiten schaffen, um diese noch besser zu ermöglichen. Das Kapital wird zunehmend in das Geschäft mit Finanzierungen gelenkt werden, auf Kosten der Schaffung von wirklich produktivem Kapital. Diejenigen, die an solchen Plänen beteiligt sind, werden in der Tat sehr gut verdienen, aber dies ist eindeutig nicht wirtschaftlich sinnvoll. Matt Stoller beschreibt diesen Prozess zu gleichen Teilen amüsant und deprimierend, da so merkwürdige und unterschiedliche Branchen wie tragbare Toiletten, Gefängnistelefone und Zahnmedizin finanziert werden, was absolut niemandem außer denjenigen zugute kommt, die diese „Form des legalisierten Betrugs, bei dem Geld aus den Taschen der Investoren und Arbeiter in die Taschen der Finanziers verschoben wird“, organisieren.

Viertens wird diese künstlich erweiterte Möglichkeit die allgemeine Größe und Konzentration im Finanzwesen selbst begünstigen. Berrys Auffassung von der optimalen Organisation der Landwirtschaft transzendiert meines Erachtens einmal mehr sein Fachgebiet und ist ein wertvoller Kommentar zu Kredit und Kapital:

„In einem stark zentralisierten und industrialisierten Lebensmittelversorgungssystem kann es keine kleineren Katastrophen geben. Ob es sich nun um einen „Produktionsfehler“ oder eine Getreidepest handelt, die Katastrophe kann nicht vorhergesehen werden, bis sie eintritt; sie wird nicht erkannt, bis sie weit fortgeschritten ist. Im Gegensatz dazu ist eine hochgradig diversifizierte, kleinbetriebliche Landwirtschaft in Verbindung mit lokaler Vermarktung buchstäblich von Gewinnspannen durchzogen, und diese Gewinnspannen ermöglichen und fördern sowohl Sorgfalt als auch Schadensbegrenzung.“

Mit anderen Worten: Das Finanzsystem wird zu einer Struktur neigen, die Krisen umso verheerender macht, wenn sie schließlich unvermeidlich eintreten.

Und schließlich ist eine offensichtliche Folge aller vier, die zunehmende Ungleichheit zwischen denen, die Kapital besitzen und denen, die es nicht besitzen, die in der Warteschlange für künstliche Finanzmittel ganz vorne stehen und die aufgrund falscher Preissignale ihr eigenes Kapital fehlinvestieren und die, die es nicht tun. Da der Schwerpunkt dieses Beitrags auf der Erläuterung der Dynamik des Kapitalbestands liegt, belasse ich es bei der folgenden Überlegung: Wenn die Reaktion der Bevölkerung auf eine derartige Ausuferung  der Ungleichheit und auf unkontrolliert wuchernde Krisen darin besteht, antikapitalistische Stimmungen zu schüren und/oder kompensatorisches Gelddrucken zu fordern, werden dann die Anreize, Zeit und Energie in die Vermehrung des Kapitalbestands zu investieren, besser oder schlechter?

Die Entkapitalisierung Amerikas

Endet es jemals? Wenn ja, wo? Und wann? Wie?

Es ist vermutlich unmöglich das zu sagen, denn die Impulse sind politisch vielfältig, und es wird immer die Gegenmacht erfolgreicher Experimente geben, die die ganze Sache stützen. Wir können ihre Bedeutung aus mehreren Blickwinkeln interpretieren. Per definition erhöhen sie den Kapitalbestand und können dessen natürliche Verringerung ausgleichen oder auch nicht. Sie tragen zu einer Deflation bei, die die durch die Perversität des Geldsystems verursachte Inflation ausgleichen kann oder auch nicht. Vor allem aber bieten sie ein Mittel zum natürlichen Schuldenabbau – selbst im Rahmen der ideologischen Besessenheit vom Konsum -, weil der geringere spätere Konsum, der ihre Finanzialisierung ausgleicht, relativ weniger stark ins Gewicht fällt.

Dass diese Chance zum Schuldenabbau besteht, bedeutet jedoch nicht, dass sie auch genutzt wird. Erfolgreiche Investitionen und die Schaffung von Kapital könnten nicht stark genug sein und das Unvermeidliche nur verzögern. Der nicht enden wollende Marsch zu einer immer größeren Verschuldung wird seinen Endpunkt an der Nullzinsgrenze finden. Es kann gar nicht deutlich genug betont werden, wie wichtig es ist, die Niedrigzinsphase von Grund auf zu begreifen.

Wenn Ihnen ein Kredit mit negativem Zinssatz angeboten wird, bedeutet dies, dass Sie ihn für ein Investitionsprojekt ausgeben können das Geld verliert, und Sie dennoch selbst Geld verdienen. Diese Finanzialisierung ermöglicht es Ihnen, einen zukünftigen Wert vorzuziehen, der niemals existieren wird. Mit anderen Worten, sie fördert nicht einmal die entsprechende Verschwendung von Kapital, sondern dessen direkten Verbrauch. Die Einführung von Negativzinsen ist ein Ausbeuten des Kapitalbestands. Sie essen die Saat, anstatt sie zu pflanzen. Das ist völliger Irrsinn, aber ein Irrsinn ohne Alternative, wenn wir uns nicht frei von Schulden machen können und trotzdem weiter konsumieren müssen.

Berrys Analyse der tragischen Logik der sich beschleunigenden Plünderung des landwirtschaftlichen Bestands lässt sich meiner Meinung nach so ziemlich in die Praxis übernehmen. Es ist vielleicht sogar besser zu sagen, dass sie generalisiert werden kann, da der landwirtschaftliche Bestand nur eine Form des akkumulierten Kapitals ist – das Original:

„Es ist zweifellos unmöglich, ohne die Vorstellung von der Zukunft zu leben; Hoffnung und Vision können nirgendwo anders leben. Aber die einzig mögliche Garantie für die Zukunft ist verantwortungsvolles Verhalten in der Gegenwart. Wenn vermeintliche zukünftige Bedürfnisse zur Rechtfertigung von Fehlverhalten in der Gegenwart herangezogen werden, wie es bei uns der Fall ist, dann verfälschen wir nicht nur die Gegenwart, sondern schmälern auch die Zukunft. Die Zukunft ist jedoch die ergiebigste Quelle für die Rechtfertigung von ausbeuterischem Verhalten. Die Zukunft ist eine Zeit, die nur durch industriellen Fortschritt und Wirtschaftswachstum erreicht werden kann. Die Zukunft, die so reich an materiellen Segnungen ist, ist dennoch von einem schrecklichen Mangel an Nahrung, Energie und Sicherheit bedroht, wenn wir die Erde nicht noch „freier“, mit größerer Geschwindigkeit und weniger Vorsicht ausbeuten. Die offensichtlichen Paradoxien, die damit verbunden sind – dass wir künftige Notwendigkeiten aufbrauchen, um eine reichhaltigere Zukunft zu schaffen; dass der endgültige Verlust zu einer kalkulierten Strategie des jährlichen Gewinns gemacht wurde – wurden bisher nicht richtig verstanden. Der große Vorteil der Zukunft als Verhaltenskontext ist, dass niemand etwas über sie weiß. Kein vernünftiger Mensch kann erkennen, wie der schnellstmögliche Verbrauch des Mutterbodens oder der fossilen Brennstoffe eine größere Sicherheit für die Zukunft bieten kann, aber wenn genügend Reichtum und Macht die Kühnheit aufbringen, dies zu behaupten, dann erhält die reine Fantasie die Kraft der Wahrheit; die Zukunft wird berechenbar, wie es selbst die Vergangenheit nie gewesen ist.“

Zu sagen, dass diese reine Fantasie hier „endet“, ist wahrscheinlich anmaßend. Es wird hier noch viel schlimmer, aber niemand weiß, wann es endet. Wenn alles Kapital aufgebraucht ist? Wenn die Verschuldung unendlich ist?

Was ist, wenn sich die Sparer gegen die Steuer auf ihre Ersparnisse auflehnen, die negative Zinssätze erfordern? Die Inflation mag eine versteckte Steuer sein, die für sie unvermeidlich ist, aber kann diese unangenehme direkte Steuer nicht durch den Abzug von Spareinlagen vermieden werden? Leider wird dies kaum mehr als eine Liquiditätskrise auszulösen, die durch die Schaffung langfristiger inflationärer Reserven überbrückt werden muss, aus denen sich dann vorhersehbar noch mehr kurzfristige inflationäre Hebelwirkung entwickeln wird. Und wenn man darüber nachdenkt, wäre dieses Ärgernis eher durch ein einfaches Verbot von Bargeld zu lösen, so dass vertretbare Gesamtbankverbindlichkeiten keine Verpflichtungen gegen etwas Bestimmtes sind, außer gegen die Kredite, die sie geschaffen haben. Es wäre sehr gut für die Stabilität der Banken, wenn man sie vor den animalischen Geistern dieses Gesindels schützen würde. Ich frage mich, ob jemand daran gedacht hat …

In den Teilen I bis IV habe ich betont, dass Geld nicht deshalb nützlich ist, weil es in irgendein semantisches Schema passt, das nur dann Gültigkeit hat, wenn sich im wirklichen Leben nichts ändert, sondern weil sich das wirkliche Leben ändert und Geld in einer unsicheren Welt Sicherheit bietet. Das soll aber nicht heißen, dass Unsicherheit schädlich ist. Die Kapitalbildung ist notwendigerweise höchst unsicher, aber von großem Nutzen. Geld ist ein Mittel, um diese Ungewissheit sozial auszugleichen, vorausgesetzt, es gibt uns überhaupt erst einmal Sicherheit. Je mehr Kapital wir schaffen, desto komplexer wird das wirtschaftliche Umfeld und desto wertvoller wird die Gewissheit des Geldes. Geld entsteht aus Unsicherheit, Kapital entsteht aus Geld, und Unsicherheit entsteht aus Kapital.

Diese Entwicklung hin zu Ordnung und Komplexität kann umgekehrt werden, wenn sie durch genügend wirtschaftliche Fehlinformationen gestört wird. Wenn der Wert des Geldes immer unsicherer wird, entsteht immer wertloseres Kapital, was bedeutet, dass Geld ohnehin weniger wert ist. Wenn man Geld kaputt macht, macht man Kapital kaputt, und wenn man Kapital kaputt macht, macht man Geld kaputt. Wenn man das Geld so sehr kaputt macht, muss man mit dem Abbau von Kapital beginnen, um wieder genügend Sicherheit zu erlangen, um auf dem bis dahin erreichten Niveau der gesellschaftlichen Komplexität zu funktionieren. Da diese Komplexität jedoch von diesem Kapital abhängt, ist dies eindeutig kein nachhaltiges Unterfangen.

Wenn wir glauben oder auch nur vermuten, dass wir auf dieses Ergebnis zusteuern, kann es dann aufgehalten werden? Können wir uns dagegen entscheiden? Kann irgendetwas …

… das Problem lösen?

Wie würde es aussehen, wenn wir es ändern könnten?

weiter zu Teil IX: Rhapsodie über ein Thema von Nakamoto


Dies ist ein Gastbeitrag von Allen Farrington. Die geäußerten Meinungen sind ausschließlich seine eigenen und spiegeln nicht notwendigerweise die von Aprycot Media wider.

Die anderen Artikel dieser Serie findest du in unserer Mediathek unter Die Bitgenstein-Serie.

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