Landwirtschaft und Kapital

Teil V der Bitgenstein-Serie

Aus dem Original “Farming and Capital” von Allen Farrington, erschienen am 20. Februar 2021 in der Serie “The Bitgenstein Serialization”. Übersetzt von Fatjoe, Lektorat durch Juniormind .


Die himmelschreiende Fehlannahme im Bezug auf den wirtschaftlichen Zustand, die dennoch weit verbreitet ist, ist sicherlich, dass wir seine Gesundheit an der Menge der konsumierten Güter und Dienstleistungen messen sollten. Dies ist ein gefährliches Hirngespinst. Der Konsum ist das Ergebnis eines komplexen Geflechts individueller Zeit- und Energiezusagen für ungewisse Vorhaben. Das Ergebnis kommt verzögert, und je größer die Komplexität und die Ungewissheit sind, desto größer ist die Verzögerung und umso wahrscheinlicher ist ein reichhaltiges Ergebnis . Die Gesundheit eines solchen Mechanismus nur an seinem greifbaren Ergebnis und nicht an seiner inneren Funktionsweise zu messen, ist, als würde man die Gesundheit eines Baumes an seiner Größe messen. Kleinere Bäume können quietschlebendig sein, und größere Bäume können längst tot sein.

Eine bessere Analogie – vielleicht sogar die perfekte Analogie – ist ein Bauernhof. Eine gepflanzte Saat ist ein Verzicht auf Konsum. Der Landwirt investiert Zeit und Energie in die reiche Ausbeute seiner Ernte, die durch die Unberechenbarkeit von Schädlingen und Wetter bedroht wird. Der Reichtum des Landwirts liegt nicht in der Menge der Ernte, sondern in der Fähigkeit des Bodens, endlos künftige Ernten zu produzieren. Daher stammt auch das Wort „Ertrag“. 

Der Landwirt könnte sich jederzeit dafür entscheiden, seinen Konsum zu maximieren, indem er sein Saatgut isst, anstatt es zu pflanzen oder indem er seinen Boden verkauft, anstatt ihn zu bewirtschaften. Aber das würde zweifellos jede vernünftige Vorstellung von seinem Reichtum mindern.

In  The Unsettling of America beklagt Wendell Berry den allmählichen Wandel in der Einstellung zur Landwirtschaft in den USA von der Rolle des Versorger zu der des Ausbeuters:

„Ich betrachte den Minenarbeiter als vorbildlichen Ausbeuter, und die altmodische Idee oder das Ideal des Bauern als vorbildlichen Versorger. Der Ausbeuter ist ein Spezialist, ein Experte; der Versorger ist es nicht. Der Standard des Ausbeuters ist Effizienz, der Standard des Versorger ist Sorgfalt. Das Ziel des Ausbeuters ist Geld und Profit; das Ziel des Versorgers ist die Gesundheit – die Gesundheit seines Landes, seiner eigenen, der seiner Familie, seiner Gemeinschaft, seines Landes. Während der Ausbeuter von einem Stück Land nur wissen will, wie viel und wie schnell es monetarisiert werden kann, stellt der Versorger eine viel komplexere und schwierigere Frage: Was ist seine Tragfähigkeit? (Das heißt: Wie viel kann ihm entnommen werden, ohne dass die Tragfähigkeit abnimmt? Was kann es auf unbestimmte Zeit zuverlässig hergeben?) Der Ausbeuter will mit so wenig Arbeit wie möglich so viel wie möglich verdienen; der Versorger erwartet zwar, dass er von seiner Arbeit anständig leben kann, aber sein wesentlicher Wunsch ist es, so gut wie möglich arbeiten zu können.“

Ich behaupte, dass sich der Kapitalbestand in ähnlicher Weise verändert, wie Berry es für den landwirtschaftlichen Bestand beklagt; dass dies durch die Besessenheit von sofortigem, quantifizierbaren Konsum anstelle von verzögerten, unsicheren Investitionen angetrieben wird; und dass dies durch dysfunktionales Geld genährt wird, welches Sicherheit und Unsicherheit nicht so kalibriert, wie es sollte. In unserer Ignoranz, Ungeduld und Arroganz verwandeln wir die Landwirtschaft Schritt für Schritt in einen Tagebau.

In den Teilen I bis IV dieser Serie habe ich die Folgen untersucht, die sich ergeben, wenn man die Rolle von Zeit, Unwissenheit und Ungewissheit beim Verständnis der Funktion des Geldes und der Veränderung seiner Funktion außer Acht lässt. Ich habe die Argumentation auf die Rolle des Kapitals ausgedehnt: Die Sicherheit, die das Geld bietet, ermöglicht immer unsichere Aktivitäten, um immer komplizierte Werkzeuge und Organisationen zu schaffen, und das Ausmaß, in dem die Schaffung von Kapital gelingt, schafft die Voraussetzungen für weitere wirtschaftliche Unsicherheit. Je mehr Kapital wir anhäufen, desto mehr werden wir dazu ermutigt, uns in unserem eigenen wirtschaftlichen Beitrag zu spezialisieren, was unsere Anfälligkeit für unvorhersehbare Veränderungen in allen anderen Angeboten und Nachfragen erhöht. Und je mehr Überschüsse wir schaffen können, desto mehr kann ein Teil davon für weitere Experimente verwendet werden, was die Veränderungen von Angebot und Nachfrage noch unvorhersehbarer macht. Das macht Geld, das tatsächlich so funktioniert, wie seine Nutzer es erwarten, umso wertvoller. Geld entsteht aus Unsicherheit, Kapital entsteht aus Geld, und Unsicherheit entsteht aus Kapital.

In den Teilen V bis IX werde ich untersuchen, was mit diesem potenziell nützlichen Kreislauf geschieht, wenn wir den Zusammenhang zwischen Geld und Unsicherheit ignorieren: wenn wir die Wichtigkeit des Kapitals nicht begreifen und die Maximierung des Konsums für unser wichtigstes kollektives Ziel halten und wenn es uns gleichgültig ist, dass das Geld, das dem Kreislauf zugrunde liegt, höchst unsicher und dysfunktional wird. Die semantische Theorie des Geldes, die ich in Teil I satirisch formuliert habe, hat hier ein spirituelles Gegenstück: durch alle möglichen semantischen Verdrehungen können wir uns selbst davon überzeugen, dass wir mehr konsumieren können als wir produzieren, mehr ernten als wir säen, mehr ausborgen können als wir zurückzahlen können. Wie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen sagt, „ist die Philosophie ein Kampf gegen die Verhexung unserer Intelligenz durch die Sprache„. Lassen wir uns nicht so betören, sondern durchschauen wir diesen Unsinn und nennen wir die Dinge beim Namen.

In den Teilen X bis XIII werde ich mich etwas mehr damit beschäftigen, wie wir das alles hinter uns lassen können. Aber jetzt wollen wir uns erst einmal die Hände schmutzig machen.

Wie man den Konsum steigert

Es gibt drei Möglichkeiten, den Konsum zu steigern. Eine besteht darin, mehr Zeit und Energie in die Produktion von Konsumgütern zu investieren. Eine andere besteht darin, vorhandenes Kapital zu verbrauchen, anstatt es einzusetzen. Natürlich ist keine der beiden Optionen nachhaltig. Es gibt ein Höchstmaß an Zeit und Energie, die eingesetzt werden kann, und einen Wert, der weit unter dem Höchstmaß liegt, über den hinaus ein weiterer Einsatz nicht erstrebenswert ist. Und es gibt einen endlichen Kapitalbestand, der, wenn er verbraucht statt genutzt wird, irgendwann erschöpft sein wird.

Die absolut einzige Möglichkeit, die für den Konsum zur Verfügung stehende Wirtschaftsleistung nachhaltig zu steigern, besteht darin, den Vermögensbestand über seine natürliche Wertminderungsrate hinaus zu erhöhen. Wenn wir mehr Kapital haben, wird mit der gleichen Menge an menschlicher Zeit und Energie ein größerer Ertrag geschaffen, der für den Konsum zur Verfügung steht. Folglich sollte es weniger menschliche Zeit und Energie erfordern, um einen bestimmten Anteil dieses Outputs zu erhalten.

Das Schwierige an der Erhöhung des Kapitalbestands ist, dass es von Natur aus ein unsicherer Prozess ist. Er lässt sich weder automatisieren noch auf einen Algorithmus reduzieren. Er ist notwendigerweise experimentell. Deshalb ist Geld so wichtig für die Schaffung von Kapital: Diese Bestrebungen nehmen Zeit und Energie in Anspruch, die andernfalls in sicherere Wege der Produktion geflossen wären. Nur eine kleine Gruppe verfügt vielleicht über das Wissen und die Fähigkeiten, um glaubwürdig mit der Schaffung eines bestimmten neuen Werkzeugs oder einer neuen Organisation zu experimentieren, und sie ist vielleicht nicht bereit, die erforderlichen Risiken einzugehen. Eine andere Gruppe ist vielleicht bereit, diese Risiken einzugehen, verfügt aber nicht über die entsprechenden Kenntnisse und Fähigkeiten. Geld ist ein Mittel, um die Risiken bei der Schaffung von Kapital so zu koordinieren, dass diejenigen, die zur Risikobereitschaft beitragen, nicht unbedingt auch die Risiken tragen.

Indem wir das Risiko von der Ausführung abkoppeln, schaffen wir Anreize für diejenigen, die bereit sind, ein Risiko zu tragen, um die Chancen zu nutzen, die ihnen am größten erscheinen, und zwar unabhängig von ihren eigenen Lebensumständen. Wir werden gemeinsam nicht nur mehr Projekte durchführen, die das Potenzial haben, unser wirtschaftliches Wohlergehen zu steigern, sondern wir werden auch den besten Projekten Vorrang einräumen. Funktionales Geld erleichtert diese Aufteilung und den Umgang mit Risiken. Was wir als Nächstes versuchen müssen zu verstehen, ist, dass dieser Prozess Rückkopplungseffekte auf die Funktionsweise des Geldes hat.

weiter zu Teil VI: Berücksichtigung von Zeit und Risiko


Dies ist ein Gastbeitrag von Allen Farrington. Die geäußerten Meinungen sind ausschließlich seine eigenen und spiegeln nicht notwendigerweise die von Aprycot Media wider.

Die anderen Artikel dieser Serie findest du in unserer Mediathek unter Die Bitgenstein-Serie.

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