Zeit, Energie und das Dreiecksspiel

Teil III der Bitgenstein-Serie

Aus dem Original “Time, Energy, And The Triangle Game” von Allen Farrington, erschienen am 20. Februar 2021 in der Serie “The Bitgenstein Serialization”. Übersetzt von stfano, Lektorat durch  Juniormind .


Hast du schon einmal das Dreiecksspiel (The Triangle Game) gespielt? Das geht so: Man bildet eine große Gruppe, in der alle ziellos umherwandern sollen. Währenddessen soll sich jeder Teilnehmer zwei andere Personen aussuchen, jedoch ohne seine Wahl den anderen mitzuteilen. Auf ein Signal hin werden alle aufgefordert, mit den beiden Personen, die sie ausgewählt haben, ein gleichseitiges Dreieck zu bilden. Dann kann man beobachten, wie das Chaos ausbricht. Selbst wenn sich die Aktivität des gesamten Netzwerks irgendwann zu beruhigen scheint, kann sie mit einem Schritt genauso leicht wieder außer Kontrolle geraten, weil andere auf die Bewegung einer Person reagieren, was  wiederum eine Reaktion von noch anderen auslösen könnte, und so weiter. Jede einzelne Entscheidung hat Auswirkungen, die sich unvorhersehbar und zeitlich ungleichmäßig auf das gesamte Netzwerk auswirken, während jeder einzelne Entscheidungsträger nur unmittelbar die Dynamik in seinem kleinen Umfeld wahrnimmt, genau wie in einem Netzwerk des wirtschaftlichen Austauschs.

Von einem Individuum zu erwarten, eine bei veränderten Bedingungen unverändert bleibende Größe des Wirtschaftsaggregats nur unter Berücksichtigung seines eigenen Angebots und seiner eigenen Nachfrage zu bestimmen, ist in etwa so, als würde man von einem Teilnehmer des Dreiecksspiels verlangen, die Durchschnittsgeschwindigkeit jedes Spielers nur im Hinblick auf seinen eigenen nächsten Schritt zu erklären. Man kann dies nicht einmal ansatzweise und man ist eher damit beschäftigt, alles in einem kleinen Umfeld bestmöglich konstant zu halten: Wenn Millionen von Teilnehmern damit beginnen würden, regelmäßig ihre Wahl der Eckpunkte zu ändern und in das Spiel ein- und auszusteigen, während sich die Erdoberfläche unter ihren Füßen verschiebt, dann könnte das schon eher der realen wirtschaftlichen Aktivität ähneln.

Wir müssen uns fragen, was die Teilnehmer eines wirtschaftlichen Netzwerks in einem tieferen Sinne geben bzw. bekommen als die überaus umständlich nachzuvollziehenden und lediglich rückwirkend gültigen Preise, mit denen sie bei Kauf bzw. Verkauf konfrontiert werden. Welche Opportunitätskosten sind ihnen allen gemein? Anstatt einen Preis zu akzeptieren, der im wahrsten Sinne des Wortes von jeder anderen Nachfrage und jedem anderen Angebot im Netzwerk abhängt, könntest du das Widget jederzeit selbst herstellen. Falls es wortwörtlich keine Widgets mehr zu kaufen gibt, müsstest du nicht davon ausgehen, dass deine Kaufkraft „unendlich gesunken“ ist, wenn die Bestandteile immer noch gekauft werden können und das Wissen, wie sie zu kombinieren sind, immer noch vorhanden und zugänglich ist. Du kannst immer noch ein Widget „kaufen“ und du kannst immer noch nachvollziehbar deine Kosten erfassen: die Kosten für den anfänglichen Kauf der Bestandteile plus die Opportunitätskosten deiner eigenen Zeit und Energie, denn jede Zeit und Energie, die du für die Herstellung eines Widgets aufwendest, kannst du nicht für die Herstellung oder Ausführung anderer Dinge verwenden, die später gegen Geld getauscht werden könnten.

Wenn Widgets andererseits immer noch in Massenproduktion hergestellt werden, wirst du höchstwahrscheinlich feststellen, dass du die Differenz zwischen den Kosten der Bestandteile und dem verfügbaren Marktpreis des fertigen Widgets nicht mit den Opportunitätskosten deiner Zeit und Energie – um aus den Bestandteilen selbst ein Widget herzustellen – vergleichen kannst. Da aufgrund der Wettbewerbsfähigkeit sehr viele Anstrengungen unternommen wurden, um genau diese Opportunitätskosten für Zeit und Energie auf Seiten des Widget-Herstellers zu minimieren, wirst du wahrscheinlich lieber die Differenz bezahlen, als selbst diese Zeit und Energie aufzuwenden.

Wenn man darüber nachdenkt, ist diese Handlungs- und Denkweise für jeden, der eine Ware oder Dienstleistung in eine andere umwandelt, um sie später mit Gewinn zu verkaufen, genau dieselbe: Der Preis soll von den Käufern als akzeptabler Gegenwert für ihre Zeit und Energie angesehen werden, in gleicher Weise soll der (derzeitige) Verkäufer mit den Unkosten umgehen und der erhoffte Gewinn soll von den Verkäufern als die beste Verwendung ihrer Zeit und Energie bei der Umwandlung des einen in das andere erachtet werden. Würden wir unsere eigenen Widgets herstellen, dann würde derjenige, von dem wir die Squidgets kaufen, dieselben Denkprozesse und Berechnungen durchführen. Die Gwidget-Hersteller (man braucht ein Gwidget, um ein Squidget herzustellen) würden dasselbe tun.

Das geht so weiter bis zum absoluten Ursprung der Lieferkette jeder Ware oder Dienstleistung. Wenn es sich um eine Ware handelt, braucht man für die Gewinnung von Rohstoffen lediglich Zeit und Energie, sofern man das Land besitzt. Wenn es sich um eine Dienstleistung handelt, braucht man nur Zeit und Energie. Wenn man in beiden Fällen dennoch Werkzeuge benötigt, geht es zurück in den Kreislauf. Es zeigt sich, dass die gesamte Preiskette über alle Tauschgeschäfte hinweg eine Reihe unabhängiger Echtzeit-Entscheidungen bzw. bestmöglicher Schätzungen darüber ist, wie man seine eigene Zeit und Energie bewertet bzw. wie andere die ihre bewerten.

Wir können uns ohne weiteres ausmalen, wie lange es dauern würde, ein eigenes Widget zu kreieren, wenn man sich verpflichten würde, kein Geld zu benutzen, um die Vorleistungen für die Bestandteile zu bezahlen, sondern nur die eigene Zeit und Energie zu verwenden, um alles Notwendige von Anfang bis Ende selbst herzustellen. Die Differenz zwischen dem Wert, den man diesem vermutlich enormen Zeit- und Energieaufwand beimisst, und den Kosten, die man tatsächlich für die Bestandteile bzw. den Ressourceneinsatz zahlt, ist genau der Wert, der durch das Geld bei der Vermittlung einer Reihe von viel spezialisierteren Austauschvorgängen geschaffen wird.

Zurück zu den ursprünglichen Umständen: Wenn die Preise für Widgets gestiegen sind, weil unter anderem die Ressourcen von Squidgets abgezogen wurden, bedeutet dies in Wirklichkeit, dass sehr viele Wirtschaftsakteure nicht mehr glauben, dass ihre Zeit und Energie am besten für die Herstellung von Widgets eingesetzt werden sollten. Obwohl wir in der Lage wären, die Gründe ihrer Denkweise zu benennen, können wir nicht sagen, ob sie objektiv richtig oder falsch ist. Sie ist in dem Maße „richtig“, wie die Akteure am Ende davon profitieren, ihre Zeit und Energie anderweitig einzusetzen. Wir brauchen daher einen unveränderlichen Maßstab, der sich nicht speziell auf Widgets bezieht, sondern auf den Gesamtbeitrag von Zeit und Energie, der in produzierende Unternehmungen fließt und insgesamt anhand ihrer Produktionsmenge bewertet wird. Widgets mögen für dich wichtig sein, aber wir können anhand der Tatsache, dass sie viel weniger (oder gar nicht) produziert werden, erkennen, dass sie für das Netzwerk nicht mehr so wichtig sind. Zeit und Energie sind für das Netzwerk von Bedeutung, aber die Umstände und Verhaltensweisen haben zu einer Veränderung geführt, wofür Zeit und Energie umgewandelt werden.

Die Leser haben vielleicht bemerkt, dass ich in Teil II – als ich Naturkatastrophen erwähnte – insgeheim eine Frage aufgeworfen habe: Ich sagte, dass dies die „realen Kosten“ in die Höhe treiben würde. Aber was sind „reale“ Kosten? Welchen Maßstab nutzen wir für die Kosten, wenn wir dafür nicht Geld verwenden? Jetzt haben wir die Antwort: menschliche Zeit und menschliche Energie. Im Falle einer Naturkatastrophe gehen wir davon aus, dass ein Großteil der Produktionsmittel zerstört wird und wir Zeit und Energie für die gesamte Eigenproduktion aufwenden müssen, wenn wir die gleiche Produktionsmenge erhalten wollen. Ganz egal welchen Ertrag wir erzielen, er wird mehr Geld kosten, weil er mehr Zeit und mehr Energie erfordern wird.

Die Eigenschaft des Geldes, „die Kaufkraft aufrechtzuerhalten“, kann also sinnvollerweise nur bedeuten, dass man mit dem Geld zum Zeitpunkt t0 einen bestimmten Anteil der gesamten Produktionsmenge des Wirtschaftsnetzwerks und zum Zeitpunkt t1 denselben Anteil kaufen kann. Unabhängig davon, was sich in der Zwischenzeit zwangsläufig geändert hat, gibt uns Geld die Möglichkeit, zu einem bestimmten Zeitpunkt Zeit und Energie in das Netzwerk einzubringen – in dem Wissen, dass unser Anspruch nicht verwässert wird und dass wir zu jedem zukünftigen Zeitpunkt denselben Anteil zurückerhalten können.

Die semantische Theorie lässt uns mit dem haltlosen Versprechen der „Wertspeicherung“ zurück. Wert, der von wem bestimmt und im Verhältnis zu was gespeichert wird? Es ist weitaus produktiver, Geld als die Bewahrung eines Beitrags an Zeit und Energie im Verhältnis zu dem wirtschaftlichen Netzwerk, das diesen Beitrag nutzt, zu verstehen. Es wäre nicht hilfreich, eine neue Form von Geld so zu beschreiben, dass es von Anfang an einen Nutzen als „Wertspeicher“ bieten würde – obwohl es auf lange Sicht sicher nicht schlecht wäre, wenn es diesbezüglich solide wäre …

Selbst wenn klar ist, dass sein Beitrag erhalten bleibt, ist es absolut ungewiss, was mit dem Netzwerk selbst geschieht, und demnach auch wie wertvoll diese Erhaltung im weiteren Sinne wirklich ist. Aber je besser eine Form von Geld solche Beiträge bewahren und vor Verwässerung schützen kann, desto größer sind die Chancen, dass sein Netzwerk Zeit und Energie und damit Wert an sich zieht. Die semantische Theorie geht davon aus, dass das Netzwerk des etablierten Geldes voll entwickelt und vollständig ist, und kann demnach auch keinen Sinn darin erkennen, dass eine neue, potenzielle Form von Geld den „Anteil von der gespeicherten Zeit und Energie erhöht“. Wenn es schon im wirklichen Leben chaotisch und verwirrend ist, dann ist es natürlich auch aus der Perspektive solcher statischen und begrenzten Definitionen chaotisch und verwirrend.

Wenn es tatsächlich den Anschein hätte, als würde ein neues Geld entstehen, dann würde es so aussehen, dass sich hinter einer oberflächlich betrachtet extremen Ungewissheit eine so wesentliche Verbesserung in Form des Schutzes vor Verwässerung verbirgt, dass das störende Ärgernis dieser Ungewissheit während des Zeitraums der Entstehung mehr als nur aufgewogen werden könnte. 

weiter zu Teil IV: Geld, Kapital und soziale Skalierbarkeit


Dies ist ein Gastbeitrag von Allen Farrington. Die geäußerten Meinungen sind ausschließlich seine eigenen und spiegeln nicht notwendigerweise die von Aprycot Media wider.

Die anderen Artikel dieser Serie findest du in unserer Mediathek unter Die Bitgenstein-Serie.

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