Wird Bitcoin im Zeitalter der Überwachung Proteste am Leben erhalten, während das Bargeld verschwindet?

Aus dem Original “Op Ed: As Cash Fades, Will Bitcoin Keep Protest Alive In The Surveillance Age?“ von Alex Gladstein, erschienen am 26. Juni 2019 im Bitcoin Magazine. Übersetzt von stfano, Lektorat durch DerGeier.


Im Zeitalter der Überwachung sind dezentralisierte und private Zahlungen eine entscheidende Innovation für eine digitale Zukunft, in der wir unsere Bürgerrechte und persönlichen Freiheiten bewahren.

In den letzten fünf Jahren hat sich die Kunst des Protests weiterentwickelt. Autoritäre Regierungen erweitern ihre Fähigkeiten, Menschenmengen zu überwachen, aber die Menschen wehren sich dagegen. Hongkong gibt uns einen Eindruck davon, wie Protest im Zeitalter der Überwachung zunehmend aussehen könnte. Hunderttausende von Hongkongern protestieren gegen ein geplantes Gesetz, das ihre Freiheiten und ihre Selbstbestimmtheit verletzen würde, und gehen mit Masken auf die Straße, um die Gesichtserkennungssysteme zu verwirren. Die Demonstranten löschen WeChat und Taobao, um sich viral und heimlich zu koordinieren, abgeschirmt durch virtuelle private Netzwerke (VPNs).

Aber für diejenigen, die ihre Bewegungen optimal vor den datenhungrigen Augen des Überwachungsstaates verbergen wollen, sind Masken und VPNs nicht genug. Bargeld ist immer noch der König der Privatsphäre. Hongkonger kaufen mit Bargeld anonyme Prepaid-SIM-Karten, um Telegramgruppen für die Protestkoordination beizutreten, ohne ihre Alltagsidentität preiszugeben. Studenten laden ihre Karten für den öffentlichen Nahverkehr mit Bargeld auf, anstatt ihre normalen, mit einem Ausweis verknüpften Octopus-Karten zu benutzen, um zu verhindern, dass die Behörden erfahren, dass sie die U-Bahn an Demonstrationspunkten verlassen. Aber wie lange werden solche cleveren Taktiken noch eine Option sein?

Das Bargeld verschwindet. Nur schätzungsweise 8 Prozent aller täglichen Finanztransaktionen weltweit werden mit Papier- oder Metallgeld abgewickelt, eine Zahl, die in den nächsten zehn Jahren asymptotisch auf Null sinken dürfte. Regierungen sprechen oft von nationalen Infrastrukturplänen, die bis 2030 erfüllt werden müssen, aber in einer Welt, die vollständig mit digitalem Geld funktioniert, werden die pro-demokratischen Demonstranten ein anderes Ziel in den Vordergrund stellen müssen, und zwar wie sie ihre Spuren verwischen können.

Um in städtischen Gebieten – wo Massenproteste am wahrscheinlichsten und effektivsten sind – die Bewegungen der Bevölkerung leicht kontrollieren und verfolgen zu können, müssen die Regierungen einfach alle Menschen in die öffentlichen Verkehrssysteme verfrachten und ihnen dann die Möglichkeit nehmen, dafür mit Bargeld zu bezahlen. Man muss beachten, was in Ländern wie Estland geschieht, wo die Regierung versucht, den öffentlichen Verkehr kostenlos zu machen. Das ist sicherlich ein edles Ziel, aber um diese Dienstleistung in Anspruch nehmen zu können, müssen die Fahrgäste ihre Identität mit einer personalisierten Smartcard nachweisen, so dass die Behörden ihre Bewegungen verfolgen können. Im demokratischen Tallinn mag dies heute kein Problem sein, aber ein paar hundert Kilometer weiter, im autoritären Minsk oder Moskau, hat der Einzelne allen Grund, sich über ein Regime Sorgen zu machen, das die Entstehung von Protesten in Echtzeit beobachten und sie stoppen kann, bevor sie zu einer Bedrohung werden.

VON UNSEREN APPS ÜBERWACHT

Die chinesische Regierung nutzt Super-Apps wie WeChat, um die Bürger noch genauer zu verfolgen, indem sie Zahlungs- und Bewegungsdaten mit Social-Media-Aktivitäten, Nachrichten und Anrufen kombiniert, um das Verhalten von Menschenmengen zu erfassen, zu zensieren, vorherzusagen und zu steuern. Auch die westlichen Social-Media-Plattformen entwickeln sich in diese Richtung – obwohl sie weniger panoptisch sind als WeChat, und experimentieren mit Zahlungsfunktionen. Zum Start wird die Facebook-Währung Libra wahrscheinlich nur mit ID-verknüpften Custodial Wallets funktionieren, was den Nutzern ähnliche Möglichkeiten auf WhatsApp und Messenger bietet wie auf Venmo, aber auch den Systemadministratoren neue finanzielle Macht verleiht. Wenn Facebook mit diesem Plan Erfolg hat – und sein Versprechen aus dem White Paper, genehmigungsfreie Finanzdienstleistungen anzubieten, aufgibt oder hinauszögert – könnte die neu entdeckte Kaufkraft unglaublich vieler Menschen mit den Meinungen und Freunden, die sie in den sozialen Medien teilen, verknüpft oder dadurch eingeschränkt werden.

Es ist durchaus vorstellbar, dass Amerikaner, Brasilianer und Inder ihre Privatsphäre gegen Bequemlichkeit eintauschen und sich ihren eigenen Weg in eine bargeldlose Welt bahnen, in der es für die Bürger extrem schwierig ist, zu protestieren, sich zu mobilisieren und Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen. In einer Welt, in der im Laufe der nächsten fünf bis zehn Jahre WeChat und Libra-ähnliche Systeme die Vorherrschaft über praktisch alle städtischen Zahlungen erlangen könnten, brauchen wir einen Plan B.

EINEN PLAN B MACHEN

Dezentralisierte und private Zahlungen sind eine notwendige Innovation für eine digitale Zukunft, in der wir unsere Bürgerrechte und persönlichen Freiheiten bewahren. Bitcoin liefert uns den Entwurf für ein globales Zahlungsnetzwerk, das unser finanzielles Verhalten abschirmen kann, anstatt es auf dem Silbertablett an Unternehmen und Regierungen zu servieren. 

Derzeit ist die Infrastruktur von Bitcoin nur die Grundlage, aber sie wächst weltweit. Immer mehr Menschen auf der Welt, von Lateinamerika über Westafrika bis Südostasien, können Bitcoin-Zahlungen empfangen, ohne sie mit einem Bankkonto oder einem staatlichen Ausweisdokument verknüpfen zu müssen, und sie schnell in lokales Bargeld umwandeln. Dies wird einen großen Einfluss auf grenzüberschreitende Zahlungen, Überweisungen und sogar Entwicklungs- bzw. Auslandshilfe haben, aber das Bitcoin-Netzwerk wird nicht in der Lage sein, den WeChat-Libra-Überwachungsstaat ernsthaft herauszufordern, bis die Nutzer ganz einfach Micropayments (Kleinbetragszahlungen) tätigen können und diese von etablierten Händlern akzeptiert werden.

Die Second-Layer-Technologie, wie das Lightning-Netzwerk, verspricht datenschutzfreundliche Mikrozahlungen, die vollkommen von der traditionellen Identität abgekoppelt sind. Stell´ Dir eine Welt vor, in der Du Dein Smartphone verwenden kannst, um berührungslos für öffentliche Verkehrsmittel zu bezahlen (um zu einer Demonstration zu gehen) oder etwas auf Amazon zu kaufen (vielleicht eine Gesichtsmaske), ohne Deine Identität preiszugeben. Bitcoin und Lightning schaffen die technologische Plattform dafür, und zwar auf eine Art und Weise, bei der Zahlungen nicht zensiert werden können und ohne dass man ein Bankkonto benötigt. In Anbetracht der weltweiten Trends zum Verschwinden von Bargeld und zur zunehmenden Überwachung kann dieser Tag nicht früh genug kommen.

Big Brother versucht, Dein tägliches Verhalten zu erfassen, Deine Mikro-Aktivitäten zu verfolgen und Dich dazu zu bringen, loyal und patriotisch zu werden. Je weniger Informationen wir zurücklassen, desto schwieriger ist die Arbeit für Big Brother. Bitcoin und Lightning öffnen die Tür zu einer Welt, in der wir Transaktionen durchführen können, ohne einen so großen digitalen Fußabdruck zu hinterlassen. Aber wenn wir heute nicht die richtigen Schritte unternehmen, könnte das Versprechen von Bitcoin verblassen. 

Lightning ist noch lange nicht da, wo es sein sollte, was die Benutzerfreundlichkeit, die Leistungsfähigkeit, das öffentliche Bewusstsein und das kommerzielle Interesse angeht. Es gibt nicht genug Unternehmen, die auf Bitcoin und Lightning aufbauen; nicht genug Akademiker und Studenten, die sich damit beschäftigen; nicht genug Pädagogen, die es lehren; nicht genug Händler, die es akzeptieren; nicht genug Menschen, die datenschutzfreundliche Kryptowährungsalternativen wie Monero und Zcash erforschen; nicht genug Philanthropen und Stiftungen, die Projekte in diesem Bereich finanzieren; und nicht genug Führungskräfte in Unternehmen und im öffentlichen Sektor, die die finanzielle Privatsphäre ernst nehmen.

Wenn wir keinen Weg finden, um private mobile Zahlungen weltweit durchzusetzen, dann werden die inspirierenden Taktiken, die von den heutigen Hongkongern verwendet werden, nicht funktionieren, wenn wir einmal in der bargeldlosen Zukunft leben. Wenn wir nicht wirkungsvoll protestieren und Druck auf die Regierungen ausüben können, könnte die Flamme der Demokratie für immer erlöschen.


Dies ist ein Gastbeitrag von Alex Gladstein im Bitcoin Magazine. Die geäußerten Meinungen sind ausschließlich seine eigenen und spiegeln nicht notwendigerweise die von Aprycot Media wider.

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