Semantik, ergo Realität

Teil I der Bitgenstein-Serie

Aus dem Original “Semantics Therefore Reality” von Allen Farrington, erschienen am 20. Februar 2021 in der Serie “The Bitgenstein Serialization”. Übersetzt von stfano, Lektorat durch actionslave.


Ludwig Wittgenstein fragte einmal einen Freund: „Sag mal, warum meinen die Leute, es sei natürlicher zu denken, dass sich die Sonne um die Erde dreht, als dass sich die Erde dreht?“ Der Freund antwortete: „Nun, weil es den Anschein hat, als ob sich die Sonne um die Erde dreht.“ Wittgenstein entgegnete: “ Wie würde es aussehen, wenn es tatsächlich den Anschein hätte, als würde sich die Erde drehen?

***

Wenn Bitcoin alle vier Jahre seine Hausse beginnt, müssen wir uns auf das plötzliche und uninformierte Interesse der breiten Öffentlichkeit einstellen. Es werden viele aufgeschlossene Neulinge erscheinen – wie wir alle einst -, aber bei diesem turbulenten Ereignis werden auch viele Vertreter der etablierten Akteure aus der Versenkung auftauchen und darauf beharren, dass das, was wir mit unseren eigenen Augen sehen können, nicht wirklich passiert, weil es ihrer Theorie nach nicht passieren kann.

Bitcoin kann kein Wertspeicher sein, weil er keinen inneren Wert hat. Er kann keine Rechnungseinheit sein, weil er zu volatil ist. Er kann kein Tauschmittel sein, weil er nicht im großen Umfang zur Bepreisung von Waren und Dienstleistungen verwendet wird. Dies sind die drei Eigenschaften von Geld. Daher kann Bitcoin kein Geld sein. Da Bitcoin auch auf keiner anderen Grundlage bewertet werden kann, ist er folglich wertlos. Quod erat demonstrandum.

Ich nenne dieses Argument: mit Semantik begründete Realität. Wodurch könnte es widerlegt werden? Im Grunde handelt es sich um eine Behauptung über die materielle Welt, darüber, was im wirklichen Leben passieren oder in diesem Fall nicht passieren wird. Und doch sieht es eher so aus, als ob sich das Argument ausschließlich auf die Bedeutung von Wörtern stützt. Bei der Erörterung der Dollarisierung in Ecuador – ein aufschlussreicher Vorgang, bei dem ein „offizielles“ Geld spontan durch ein einfacheres, besseres Geld ersetzt wird – sagt Larry White über diejenigen, die per Definition leugnen, dass so etwas überhaupt passieren kann, dass sie „nur auf die Tafel schauen und nicht auf das, was draußen vor dem Fenster passiert.“ Dies ist ein merkwürdiger Ansatz, um neuartige Phänomene zu verstehen, den ich im Allgemeinen nicht empfehlen würde. Der Realität ist es egal, wie man sie beschreibt.

Aber es gibt auch eine Form der semantischen Theorie, die weicher, gleitender und agnostischer ist und anerkennt, dass etwas passiert: dass Bitcoin nicht nichts ist, aber dass er sicher kein Geld sein kann, weil er so sehr von der (semantischen) Standardvorstellung davon abweicht, was Geld sein und wie es sich verhalten sollte, so dass man sich schwertut, der Aussage (Bitcoin sei Geld) zuzustimmen. Bitcoin scheint auf jeden Fall eine Art von Netzwerk zu sein: Er ist global, digital, solide, offen und programmierbar. Und nachdem er in der Vergangenheit überhaupt nichts wert war, hat er unbestreitbar an Wert gewonnen. Aber unterscheidet sich das von einer gewöhnlichen Finanzblase? Ist „Geld“ mit blasenartigem Verhalten vereinbar? Und ist die digitale Natur von Bitcoin wirklich so vorteilhaft? Ermöglicht das Internet nicht eine Geschwindigkeit und Potenz der Viralität, die so fein abgestimmt ist, um eine Blase in allem aufzublähen, das als etwas offenes und programmierbares Digitales erachtet wird? Bitcoin mag etwas sein – vielleicht die „Blockchain-Technologie“, auf der er läuft? – aber offensichtlich sieht es einfach so aus, als ob Bitcoin kein Geld sei.

Die semantische Theorie ist erschreckend statisch. Ihre semantische Irreführung ist der Grund für diesen Stillstand: In vielen Sprachen gibt es verschiedene Verben, um zwischen verschiedenen Arten von „sein“ zu unterscheiden – im Sinne von eine Eigenschaft intrinsisch oder umständehalber haben -, wie etwa ser und estar im Spanischen. Die englische Sprache tut dies nicht. Ich bin männlich, genauso wie ich hungrig bin. Aber in welchem Sinne ist Bitcoin volatil? Ist er von Natur aus volatil oder ist er zu einem bestimmten Zeitpunkt, unter bestimmten Umständen, relativ zu einem bestimmten Standard volatil? Sind Waren und Dienstleistungen irgendwie grundsätzlich resistent gegen eine Bepreisung in Bitcoin? Was passiert, wenn man dies versucht? Ist es so, als würde man durch Null dividieren?

Stell dir vor, dass das gesamte seriöse Wirtschaftswissen aus dem Studium großer, etablierter Unternehmen stammen würde, weil es seit Menschengedenken nie ein Start-up-Unternehmen gegeben hätte. Wenn dann ein Start-up-Unternehmen auftaucht, könnte man sagen: „Das ist kein Unternehmen, weil es keinen Gewinn macht“ oder „Das ist kein Unternehmen, weil es keinen definierten Geschäftsplan hat.“ Das wäre natürlich unklug. Das soll nicht heißen, dass ihre Modelle und Definitionen völlig falsch anstatt absolut richtig wären, sondern vielmehr, dass die Dinge nicht so binär sind. Die Realität ist chaotisch und wir sollten uns mit der Realität befassen, nicht mit unseren Theorien über die Realität, die, wie sich herausstellt, nie wirklich geprüft wurden …

Wittgenstein wäre davon höchst unbeeindruckt. Er würde wahrscheinlich fragen:

Wie würde es aussehen, wenn es tatsächlich den Anschein hätte, als würde sich gerade ein globales, digitales, solides, offenes, programmierbares Geld aus dem Nichts zum Zahlungsmittel entwickeln?

Das sollten wir uns auch fragen.

weiter zu Teil II: Äpfel, Zebras und Wissen


Dies ist ein Gastbeitrag von Allen Farrington. Die geäußerten Meinungen sind ausschließlich seine eigenen und spiegeln nicht notwendigerweise die von Aprycot Media wider.

Die anderen Artikel dieser Serie findest du in unserer Mediathek unter Die Bitgenstein-Serie.

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