Rhapsodie über ein Thema von Nakamoto

Teil IX der Bitgenstein-Serie

Aus dem Original “Rhapsody On A Theme Of Nakamoto” von Allen Farrington, erschienen am 20. Februar 2021 in der Serie “The Bitgenstein Serialization”. Übersetzt von stfano, Lektorat durch actionslave.


Quentin Skinners monumentaler Überblick über die Entwicklung der politischen Philosophie der frühen Neuzeit, “The Foundations of Modern Political Thought”, beginnt mit den folgenden Zeilen:

„Etwa in der Mitte des zwölften Jahrhunderts erkannte der deutsche Historiker Otto von Freising, dass sich in Norditalien eine neue und bemerkenswerte Form der sozialen und politischen Organisation herausgebildet hatte. Er bemerkte dabei die Besonderheit, dass die italienische Gesellschaft offenbar den feudalen Charakter abgelegt hatte.“

Obwohl Skinners Interesse eher der politischen Philosophie als der Wirtschaftsgeschichte gilt, ist es leicht zu erkennen, dass diese sozialen Veränderungen durch eine aufkommende Form des Kapitalismus ermöglicht wurden. So schrieb auch der große Mediävist Henri Pirenne in seinem Werk “Medieval Cities” (“Mittelalterliche Städte”) über die Zeit und die Region:

„Die Lombardei, in der von Venedig im Osten und Pisa und Genua im Westen alle Handelsströme des Mittelmeers zusammenflossen, blühte außerordentlich üppig auf. Auf der wundervollen Ebene blühten die Städte mit der gleichen Kraft wie die Ernten. Die Fruchtbarkeit des Bodens ermöglichte ihnen eine unbegrenzte Ausdehnung. Gleichzeitig begünstigte die leichte Erreichbarkeit der Märkte sowohl die Einfuhr von Rohstoffen als auch die Ausfuhr von industriegefertigten Gütern. Hier entstand aus dem Handel die Industrie. Mit ihrer Entwicklung erwachten Bergamo, Cremona, Lodi, Verona und alle alten Städte, alle alten römischen Munizipien, zu neuem Leben – in einer weitaus energischeren Form als es in der Antike der Fall war.“

Pirenne fügte hinzu, dass der Aufstieg dieser Städte, der auf der kommerziellen und industriellen Expansion beruhte,

„den sozialen Fortschritt stark gefördert hat. Sie trug nicht minder dazu bei, dass sich in der Welt eine neue Auffassung von Arbeit verbreitete. Zuvor war sie versklavt; nun wurde sie frei und die Folgen dieser Tatsache, auf die wir zurückkommen werden, waren ungewiss. Schließlich sei hinzugefügt, dass der wirtschaftliche Aufschwung, der sich im zwölften Jahrhundert vollzog, die Macht des Kapitals offenbarte, womit genug gesagt sein müsste, um zu zeigen, dass wohl keine Epoche der Geschichte eine tiefgreifendere Wirkung auf die Menschheit hatte.“

Doch wer hätte gedacht, dass der Feudalismus ein Comeback zu feiern scheint. Joel Kotkin nimmt in der Einleitung seiner prägnanten Arbeit “The Coming of Neo-Feudalism” dieses Wiederauftauchen vorweg:

„Natürlich wird es dieses Mal anders aussehen: Wir werden keine Ritter in glänzenden Rüstungen sehen, keine Vasallen, die ihren Herren huldigen, oder eine mächtige katholische Kirche, die die herrschende Orthodoxie durchsetzt. Was wir sehen, ist eine neue Form der Aristokratie, die sich in den Vereinigten Staaten und darüber hinaus entwickelt, da sich der Reichtum in unserer postindustriellen Wirtschaft immer mehr in wenigen Händen konzentriert. Die Gesellschaften werden zunehmend in Schichten aufgeteilt und die Aufstiegschancen sinken für den größten Teil der Bevölkerung. Eine Klasse von Vordenkern und Meinungsmachern, die ich als “intellektuelle Elite” bezeichne, bietet der entstehenden Hierarchie intellektuelle Unterstützung. In dem Maße, in dem die Möglichkeiten für einen Aufstieg schwinden, verliert das Modell des liberalen Kapitalismus weltweit an Attraktivität, und an seiner Stelle entstehen neue Konzeptionen, darunter auch solche, die eine Art Neo-Feudalismus unterstützen.“

Nicht alle, aber sicherlich einige dieser elenden Umstände lassen sich ohne weiteres auf die normal gewordene  Ausbeutung von Kapital im Streben nach zunehmend fremdfinanziertem “Wachstum” zurückführen, den ich in den Teilen V bis VIII dieser Serie beschrieben habe. Diejenigen, die keine Vermögenswerte besitzen, neigen immer mehr dazu, in Schulden zu ertrinken, aus denen sie realistisch betrachtet niemals herauskommen werden, da sie nicht in der Lage sind zu sparen, außer durch Spekulationen, und sich die Inflation der wesentlichen Lebenshaltungskosten, die offiziell nicht existiert, nicht leisten können. Zu den “offiziellen” Botschaften zählen Aussagen wie die von Christine Lagarde (damals Präsidentin des IWF und heute der EZB), dass “wir glücklicher sein sollten, einen Job zu haben, als dass unsere Ersparnisse geschützt sind”, sowie die Prognose des Weltwirtschaftsforums, dass man bis 2030 “nichts besitzen, aber glücklich sein wird.” Man wird Dinge benutzen, die wohlgemerkt jemandem gehören. Aber dieser Jemand wirst nicht Du sein.

Wenn wir glauben würden, dass diese Leute tatsächlich meinen, was sie sagen, und dass die Ausbeutung des Kapitals nicht aufhören wird – tatsächlich, dass sie nicht aufhören kann -, wären wir vielleicht ähnlich wie Otto von Freising geneigt, nach irgendwelchen Trieben der Zivilisation Ausschau zu halten, die es schaffen, unseren wiederbelebten Feudalismus zu überwinden. Es mag eine Vielzahl von Gründen geben, warum verschiedene Gruppen diesen Zustand vermeiden. Ich denke, dass der Grund für einige der Bitcoin sein wird.

Was soll das bedeuten? Ich bin sicher, dass es den meisten übertrieben, wenn nicht gar total lächerlich vorkommt, aber es ist eigentlich ziemlich prosaisch. Es bedeutet, dass diejenigen sozialen Einheiten, die sich freiwillig dafür entscheiden, ihre Positionen in selbstreferenziell falsch bewerteten, toxischen Krediten zugunsten eines globalen, digitalen, soliden, quelloffenen, programmierbaren Geldes aufzulösen, in der Lage sein werden, langfristig orientiertes Kapital in einem überproportionalen Verhältnis zu denjenigen zu akkumulieren, die dies nicht tun. Sie werden über eine überlegene wirtschaftliche Grundlage verfügen, auf der sie gesunde soziale und politische Institutionen aufbauen können, die sich von denen unterscheiden, die sie zurückgelassen haben, so wie es das mittelalterliche Venedig mit den Überbleibseln des westlichen Imperiums tat. Dies kann auf jeder Ebene zutreffen. Es könnte ein Einzelner sein, eine Familie, eine Freundesgruppe, eine Nachbarschaft, ein Unternehmen, eine Stadt, eine Industrie, ein Land oder die ganze Welt. Wir werden abwarten und zusehen müssen.

Natürlich könnte es auch niemand sein. Es könnte ganz und gar scheitern. Ich sage das in erster Linie, um mich vor dem Vorwurf des blinden Glaubens, des spekulativen Wahnsinns und der grundsätzlichen Unseriosität zu schützen. Aber ich sage es nicht, um intellektuelle Kultiviertheit mit post-hoc unwiderlegbarem Geschwafel vorzutäuschen. Als ob das nicht schon völlig klar wäre, bin ich tatsächlich sehr froh, zu Protokoll geben zu können, dass Bitcoin höchstwahrscheinlich Erfolg haben wird. Es gibt zwar gute Gründe, warum er scheitern könnte, aber “er ist dumm” und “ich mag ihn nicht” gehören nicht dazu. Um die Gründe für ein mögliches Scheitern vernünftig darlegen zu können, muss man ihn erst einmal verstehen. Die meisten tun das nicht. Wie ich in den Teilen I bis IV dieser Serie dargelegt habe, wissen die meisten nicht einmal, was sie da vor sich haben. Und sie werden es auch in nächster Zeit nicht wissen, weil sie es nicht sehen wollen. Wie der Wissenschaftsphilosoph Norwood Russell Hanson sagen könnte, ist ihre Wahrnehmung theorielastig. Außerdem sind ihre Theorien falsch. Ups.

Im Geiste solch anschaulicher Entrüstungen wie “Er ist ein Schneeballsystem!”, “Er ist Energieverschwendung!” und “Er ist durch nichts gedeckt!” werde ich nun diese Trilogie mit meiner eigenen Reihe anschaulicher, empörender Metaphern vervollständigen, um zu versuchen, den Menschen verständlich zu machen, was gerade tatsächlich passiert und warum die Dinge genau so erscheinen, wie sie sollten.

So haarsträubend, dass sie vielleicht sogar zutreffend sind…

weiter zu Teil X: Bitcoin ist Ariadne


Dies ist ein Gastbeitrag von Allen Farrington. Die geäußerten Meinungen sind ausschließlich seine eigenen und spiegeln nicht notwendigerweise die von Aprycot Media wider.

Die anderen Artikel dieser Serie findest du in unserer Mediathek unter Die Bitgenstein-Serie.

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