Bitcoin ist Venedig, Bitcoin ist

Teil XIV der Bitgenstein-Serie

Aus dem Original “Bitcoin Is Venice, Bitcoin Is” von Allen Farrington, erschienen am 20. Februar 2021 in der Serie “The Bitgenstein Serialization”. Übersetzt von H. Liner, Lektorat durch stfano.


Von den verschiedenen Zentren, in denen während der gesamten späteren Renaissance republikanische Ideen diskutiert und gefeiert wurden, war Venedig dasjenige, das sich am nachhaltigsten zu den traditionellen Werten der Unabhängigkeit und Selbstverwaltung bekannte. Während der Rest Italiens der Herrschaft der Signori unterlag, gaben die Venezianer ihre traditionellen Freiheiten nie auf.

Quentin Skinner

Ich neige dazu, Bitcoin-Analogien, die nicht offensichtlich rhetorischer Natur sind, als unweigerlich fehlerhaft und letztendlich eher verwirrend als hilfreich zu empfinden. Dennoch hat Venedig eine rätselhafte Anziehungskraft, die ich nicht als vollkommen fantastisch abtun kann. Als eine soziale und politische Ordnung, die aus dem Feudalismus hervorging, indem sie sich dem Handel und der Kapitalbildung zuwandte, ist sie sicherlich lehrreich. Aber mir scheint als sei dort noch mehr. Natürlich ist Bitcoin keine Stadt, aber ein System und ein Symbol, in einer Weise, die über seine Instanziierung als Code hinausgeht – wie Venedig über seine Inseln und die Lagune hinausging.

Manche Vergleiche sind niedlich und einfach. Venedig war sehr viel einfacher zu verteidigen als anzugreifen, sodass ein Angriff im Grunde sinnlos war. Sein Regierungsmodell war auf eine besondere Weise undurchsichtig und grundlegend resistent gegen jegliche Ergreifung. Wenn dies dennoch zu einer realistischen Bedrohung wurde, schien eine Immunreaktion ausgelöst zu werden, die diese Gefahr beseitigte. War die legendäre Niederschlagung des Aufstands von Bajamonte Tiepolo, die nicht durch die Sicherheitskräfte der Kommune, sondern durch eine alte Frau, die einen Stein aus dem Fenster warf, ausgelöst wurde, eine primitive User Activated Soft Fork? Klar, warum nicht. Und was ist mit dem Ausbruch aus einem dunklen Zeitalter, das vor allem durch die Geldentwertung gekennzeichnet war? Pirennes Beobachtung deutet sicherlich auf einen Präzedenzfall hin,

„wenn man sich die Tatsache eingesteht, dass das Wiederaufkommen der Prägung von Goldmünzen – wie dem florentinischen Florin und den venezianischen Dukaten im dreizehnten Jahrhundert – die wirtschaftliche Renaissance Europas kennzeichnete, so galt auch andersherum: Die Abkehr von Goldmünzen im achten Jahrhundert war Ausdruck eines tiefgreifenden Niedergangs.

Was war mit Venedigs relativem Egalitarismus? John Julius Norwich schreibt in A History of Venice, dass Venedig berühmt war “für ein Rechtssystem, das Reichen und Armen, Aristokraten und Handwerkern, Venezianern und Fremden gleichsam Schutz gewährte; denn in der Theorie und größtenteils auch in der Praxis waren alle Menschen, die unter dem Banner des Heiligen Markus lebten, vor dem Gesetz gleich.” Pirenne merkt an, dass diese Haltung im Wesentlichen auf den Notwendigkeiten des Handels beruhte und daher über das eigene Rechtssystem und die inneren Angelegenheiten der Stadt hinausging: “Jegliche Bedenken waren für die Venezianer bedeutungslos. Ihre Religion war eine Religion der Geschäftsleute. Es machte ihnen wenig aus, dass die Moslems die Feinde Christi waren, wenn das Geschäft mit ihnen profitabel war.” In ähnlicher Weise hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass Bitcoin unpolitisch oder “Geld für Feinde” ist, aber mich hat zu diesem Thema eine tiefgehende Anekdote von Terry Crews besonders berührt:

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Was ist mit Venedigs ständiger Missachtung der Proklamationen der Kirche, dem buchstäblichen Gegenstück zu Kotkins modernem Klerus der elitären Trendsetter und Richtigdenkenden, die ohne Zweifel bereits “eine trotzige und ablehnende Haltung gegenüber der Wiederbelebung des Handels eingenommen haben und weiterhin werden, die ihnen von Anfang an als beschämend und besorgniserregend erschienen sein muss”, wie Pirenne es ausdrückte?

Ich denke aber der zutreffendste Vergleich von allen ist die Zusammenführung unterschiedlichster Ideen zu einem finanziellen Grundpfeiler. Im Venedig des Mittelalters und der Renaissance wurde nur wenig Bemerkenswertes für das Handelswesen erfunden. Die doppelte Buchführung wurde wahrscheinliche aus Genua übernommen, nachdem sie ursprünglich aus Levante nach Italien fand. Das am besten dazu passende Zahlensystem stammt bekanntermaßen aus Indien und verbreitete sich im arabischen Raum über Persien, Levante und Maghreb. Die meisten anderen Beiträge zur kaufmännischen Verwaltung wurden wahrscheinlich aus Arabien und Konstantinopel importiert, die maßgeblichen industriellen Fortschritte der Zeit hatten überwiegend ihren Ursprung in China. Aber Venedig verstand sie alle perfekt miteinander zu kombinieren. Die meisten Konzepte des modernen Finanzwesens waren wohl spätestens im 15. Jahrhundert in Venedig vorhanden; nur wenige wurden dort tatsächlich erfunden, sondern weiter kombiniert, standardisiert, skaliert oder modernisiert. In meiner Wahrnehmung waren nur das zentrale Bankwesen und die Bezugsrechte/Kaufoptionen sowohl wesentlich als auch vollkommen neuartig.

Selbstverständlich haben sich Technologien, Industrien und die Gesellschaft seitdem unbeschreiblich weiterentwickelt; dennoch leben wir immer noch nach venezianischen Finanzgewohnheiten und haben keine Ahnung aus welchem Grund. Sogar das Wort “Bank” im finanziellen Sinne stammt aus Venedig – und zwar von der banca, den “Sitzbänken” der Geldwechsler an der Rialtobrücke. Lane und Müller stellen heraus, dass sich “das echte Bankwesen – so ist man sich heute einig – nicht aus dem Geldverleih oder der Pfandleihe heraus entwickelt hat, sondern aus dem manuellen Tauschen von Münzen.” Das moderne Bankwesen ist das Erbe eines Problems, das inzwischen technologisch gelöst ist. 
Die folgende Beschreibung der venezianischen Finanzinfrastruktur um das 14. Jahrhundert aus Lanes Venice, A Maritime Republic ist insofern bemerkenswert, als sie meines Erachtens eine absolut solide Grundlage für das Verständnis der Rollen von Kreditkarten-Netzwerken und Abrechnungssystemen heutzutage darstellt:

„Die Hauptfunktion eines venezianischen Bankiers bestand nicht darin Kredite zu gewähren, sondern Zahlungen im Namen seiner Kunden zu tätigen. Selbst wenn ein Kaufmann viele Münzen in seiner Schatztruhe hatte, war es mühsam und gefährlich, sie bei jedem Kauf herauszuholen und sich zu vergewissern, dass jede Münze echt und in gutem Zustand war. Auch wollte er nicht jedes Mal, wenn er einen Verkauf tätigte, einen ähnlichen Prozess durchlaufen. Er war froh, wenn er die Bezahlung erhielt, indem ihm ein Kredit im Buch eines bekannten Bankiers gutgeschrieben wurde. Mit diesem Kredit konnte er beim nächsten Einkauf bezahlen. Diese Kredite wurden nicht durch das Ausstellen von Schecks überwiesen, wie es heute üblich ist, sondern hingen davon ab, dass die Person, die eine Zahlung leisten wollte, persönlich vor dem Bankier erschien, der hinter einer Bank unter dem Säulengang einer Kirche in Rialto saß und sein großes Journal vor sich ausgebreitet hatte. Der Zahlungspflichtige wies den Bankier mündlich an, eine Überweisung auf das Konto des Zahlungsempfängers vorzunehmen. Der Bankier schrieb die Anweisungen in sein Buch, das eine offizielle notarielle Urkunde war, so dass keine Quittungen erforderlich waren. Normalerweise gab es vier oder fünf solcher Bankiers mit Ständen auf dem Campo neben der Rialtobrücke. Jeder bedeutende Geschäftsmann hatte ein Konto, um über die Banken Zahlungen tätigen und empfangen zu können. Man nannte sie banche di scritta oder del giro, weil ihre Hauptfunktion darin bestand, Überweisungen aufzuschreiben und somit auf Befehl der Kaufleute Kredite von einem Konto auf ein anderes zu transferieren (girare).

Wenn wir die Wechsel, Kreditschöpfung und schwebende Staatsverschuldung in die Betrachtung miteinbeziehen – alles natürliche Erweiterungen des Nutzens dieser Kontobücher – und wenn wir natürlich die harten, auf Verlangen abrufbaren Reserven, die ursprünglich hinterlegt wurden, außen vor lassen, bleibt nicht mehr viel übrig über das man noch buchführen kann. Sieh es als Ursprung dessen, weshalb die vertrauenslosen, nativ digitalen, computergestützten und dezentralen Eigenschaften von Bitcoin für das Settlement sowie Lightning für Zahlungen ein solches System dramatisch verbessern. Bitcoin mag magisches Internetgeld sein, viel wichtiger ist aber, dass es Geld für das Internet ist. Vor 2009 konnte man jede beliebige Information an jeden beliebigen Ort der Welt schicken, und zwar sofort … außer die wichtigste Information von allen: Wert. Jetzt werden wir alle eingeholt.

Oft wird gesagt, Bitcoin sei eher eine geniale Kombination früherer Errungenschaften angewandter Kryptografie als eine eigenständige Erfindung. Ich bin von der romantischen Vorstellung angetan, Bitcoin sei eher entdeckt anstatt erfunden worden. Bitcoin ist das Fundament für die nächste große Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. Bitcoin ist Venedig.

Bitcoin ist

Unsere Geschichte verbietet es, davon überrascht zu sein, dass eine orthodoxe Denkweise eng, starr, käuflich, moralisch korrupt und rachsüchtig gegenüber Andersdenkenden wird. Das ist immer und immer wieder geschehen. Man könnte es für die Endstufe der Orthodoxie halten; es ist das, was schließlich mit einer Denkweise geschieht, die sich einmal dazu bereit erklärt hat, orthodox zu sein. Aber man kann sich schon ein wenig darüber amüsieren, wenn nicht gar wundern, dass dies einer modernen Wissenschaft widerfährt, die, wie sie nicht müde wird zu verkünden, gegründet wurde, um die Wahrheit zu suchen, nicht um sie zu schützen… Wenn also eine Veränderung kommen soll, dann muss sie von außen kommen. Sie wird von den Rändern her kommen müssen.

Wendell Berry

Abgesehen von den farbenfrohen und ungeheuerlichen Metaphern bleibt die erstaunlichste Tatsache, dass Bitcoin überhaupt existiert. Bitcoin ist. Das ist unbestreitbar, auch wenn die Gründe dafür ignoriert werden können – unser Geldsystem ist für die Ausbeutung von Kapital optimiert – und sein Aufstieg missverstanden werden kann – das Mainstream-Verständnis von Geld entkräftet ihn eher durch starre Definition als durch Beobachtung.

Ludwig Wittgenstein fragte einmal einen Freund: “Sag mal, warum meinen die Leute, es sei natürlicher zu denken, dass sich die Sonne um die Erde dreht, als dass sich die Erde dreht?” Der Freund antwortete: “Nun, weil es den Anschein hat, als ob sich die Sonne um die Erde dreht.” Wittgenstein entgegnete: “Wie würde es denn aussehen, wenn es tatsächlich den Anschein hätte, als würde sich die Erde drehen?”

Wie würde es aussehen, wenn es tatsächlich den Anschein hätte, als würde sich gerade ein globales, digitales, solides, offenes, programmierbares Geld aus dem Nichts zum Zahlungsmittel entwickeln?


Dies ist ein Gastbeitrag von Allen Farrington. Die geäußerten Meinungen sind ausschließlich seine eigenen und spiegeln nicht notwendigerweise die von Aprycot Media wider.

Die anderen Artikel dieser Serie findest du in unserer Mediathek unter Die Bitgenstein-Serie.

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